Geister, Götter und Guavas
Nachdem ich zwei Wochen in Hualien an der Ostküste Taiwans verbracht hatte, war ich nach einer vierstündigen Zugfahrt in Kaohsiung (einer grösseren Stadt von 2.7 Millionen Einwohnern) angekommen. Kaohsiung liegt an der Westküste Taiwans und bekommt darum (zusätzlich zu Taiwans eigener Luftverschmutzung) einiges von Chinas Luftverschmutzung ab. Darum tragen an der Westküste viele Leute auf der Strasse Mundmasken, wie sie Ärzte tragen. Wie in Hualien zuvor, verbrachte ich auch in Kaohsiung zwei Wochen, je eine Woche bei einer neuen Gastfamilie. Ich war von einer sehr christlichen Familie aus Hualien zu einer enorm daoistischen Familie in Kaohsiung gekommen. Dadurch entstand ein recht starker Kontrast. Sie hatten sogar einen kleinen Altar im Haus und häufig sagten sie mir ich solle aufpassen, wenn ich das Haus verlasse, denn es sei Geistermonat im August, während dem die Geister stärker als die Götter sind: "Dann können dich die Götter nicht so gut beschützen, du musst also vorsichtig sein!" Manchmal kam ich abends heim und sie erzählten mir wie es an diesem Tag bei ihrer Arbeit nur so von Geistern gewimmelt hätte. Als ich fragte, ob sie jemals einen Geist gesehen hätten, konnte aber keine meine Frage bejahen.

Was ich auch faszinierend fand, war, dass die Daoisten auch in die buddhistischen Tempel gingen, um dort zu beten. Als ich verwirrt fragte, wie sie denn einfach in einen buddhistischen Tempel gehen konnten, um dort zu beten, wenn sie doch Daoisten sind, war ihre Antwort: "Och, wir grüssen hier nur gerade die anderen Göttern aus dem Buddhismus. Die sind auch sehr lieb. Dieser buddhistische Gott hier ist ein guter Freund von meinem daoistischem Gott." Ich war baff. Das ist für eine westliche Person wie mich unglaublich. Man stelle sich vor, ein Muslim kommt in die Kirche, um zu beten und geht danach noch in eine Synagoge, um dort den Gott zu grüssen. Ich fragte weiter: "wie viele Götter gibt es denn im Daoismus?" Die Antwort: "Ach du fragst ja schwierige Fragen! Keine Ahnung. Es gibt hunderte. Niemand weiss so genau wie viele es wirklich sind. Jedes Dorf hat seinen lokalen eigenen Gott, den es nur dort gibt und der nur dort angebetet wird. Manche Dörfer haben auch mehrere eigene Götter. Und dann gibt es noch grosse Götter, die in ganz Taiwan bekannt sind, wie zum Beispiel Ma'zu, der Göttin des Meeres." Meine Neugier kaum zu stillen, ging es eine gute Stunde so weiter; ich fragte freudig, schwierige Fragen und bekam viel Stirngerunzel und "ääääh" zurück.

Wie zuvor schon in Hualien, holten mich täglich Leute in Kaohsiung morgens mit dem Auto ab und brachten mich zu einer neuen Farm, einem grossen Tempel oder einem Jahrmarkt, um diese zu erkunden. Manchmal aber waren wir schneller durch mit dem Tagesplan als erwartet. Dann fragten sie mich immer "hast du noch einen Wunsch oder sollen wir doch schon wieder nach Hause bringen?" Ich hatte immer einen Wunsch und sie wurden mir stets erfüllt, sei es traditionelle Massage, Karaoke singen oder Hotpot essen gehen. Jeder Morgen jedes Tages fing also damit an, mich zu Fremden ins Auto zu setzen und mich abends mit gebrochenem Herzen von eben diesen neu gewonnen, fremden Freunden zu verabschieden, wenn sie mich um 22:00 wieder heimbrachten. Dann ging ich meistens noch eine Stunde Basketball oder Badminton spielen mit dem Sohn meiner Gastfamilie. Ich konnte mich nicht beklagen. Das Leben war schön. Ich schlief nachts – völlig kaputt – wie die Schäfchen, die ich zählte.